Ukraine: „Die Kirche ist Anwältin des Volkes“

25/06/2018 Leuven – Die Ukraine ist ein Land im Fadenkreuz: Die Auseinandersetzung mit Russland hat im Osten des Landes zu einem Krieg geführt, in dem bis heute Menschen sterben. Wie schon oft in seiner Geschichte ist die Ukraine ein Spielball der Mächtigen, zerrissen von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Zerrissenheit prägt auch die Kirche des Landes. Nicht nur verschiedene christliche Konfessionen stehen sich gegenüber, auch die Jahre der kommunistischen Verfolgung wirken noch nach.

Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ engagiert sich seit über fünf Jahrzehnten für die Christen in der Ukraine. Über alte Wunden und neue Herausforderungen hat sich Tobias Lehner, Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei „Kirche in Not“ Deutschland, bei einer Reise informiert.

Vor gut vier Jahren blickte die Weltöffentlichkeit auf die Ukraine: Blutige Proteste in der Hauptstadt Kiew, Annexion der Krim durch Russland und Krieg in der Ostukraine. Heute ist es ruhig um das Land geworden. Trügt die Stille?

Tobias Lehner: Absolut. Die Ukraine ist ein Land im Krieg. Er ist allgegenwärtig in den Erzählungen der Menschen – auch wenn diese in vergleichbarer Sicherheit und Frieden leben. Trotz zweier Waffenstillstandsabkommen wird Tag für Tag in der Donbass-Region geschossen. Die Zahl der Opfer ist auf über 10 000 gestiegen. Ich bin einem Priester begegnet, der immer wieder in die Kriegsregion reist und den Menschen beisteht. Er erzählte mir, dass genau an dem Tag, als wir miteinander sprachen, der Hilfskonvoi eines Mitbruders beschossen wurde und komplett ausbrannte – Gott sei Dank waren der Priester und die freiwilligen Helfer kurz zu vor ausgestiegen und in Sicherheit. In Charkiw nahe der russischen Grenze habe ich eine Frau getroffen. Sie war mit ihrem Mann und zwei kleinen Kinder erst eine Woche zuvor Hals über Kopf aus dem Kriegsgebiet geflüchtet. Sie hatten nur das bei sich, was sie am Leib trugen. Jetzt wird sie in einem Zentrum des Bistums versorgt. Solche Begegnungen gehen schon unter die Haut.

Ein weiterer Konfliktherd ist nach wie vor die Halbinsel Krim. Sie wurde im März 2014 von Russland annektiert. International wurde dies als völkerrechtswidrig eingestuft. Was konnten Sie über die Lage dort erfahren?

Der Weihbischof der Diözese Odessa-Simferopol, Jacek Pyl, der für die katholische Minderheit auf der Krim zuständig ist, berichtete von einer zwiespältigen Situation. Zum einen leben die Menschen dort in Frieden, auch wenn er brüchig ist. Auch die Kirche kann ihrer Arbeit weitgehend nachgehen. Zum anderen ist die humanitäre Lage für viele Menschen auf der Krim äußerst angespannt. Die Lebensmittelpreise sind stark gestiegen. Gerade Familien mit Kindern oder alte Menschen können sich das Lebensnotwendigste nicht mehr leisten. Das Bistum hilft mit Lebensmittelpaketen und wird dabei von „Kirche in Not“ unterstützt. Mein Eindruck war: Die Wunde Krim schmerzt stark. Aber die Kirche nimmt die Situation an, wie sie ist und versucht jenseits der Politik für die Menschen da zu sein.

Politisch stark involviert war die Kirche bei den Protesten im Winter 2013/2014 auf dem Maidan-Platz in Kiew. Diese richteten sich gegen die Politik des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Die Proteste wurden blutig niedergeschlagen. Ein Ziel wurde aber erreicht: Vorgezogene

Neuwahlen, bei denen Petro Poroschenko die Macht errang. Steht der Maidan in der Wahrnehmung der Menschen für Scheitern oder Sieg?

Die Ereignisse des Maidan sind überall im Land präsent. In Kiew haben alle Gesprächspartner erzählt, wie sie in den Kirchen und Klöstern Demonstranten aus dem ganzen Land aufgenommen und Verwundete versorgt haben. Seit dem Maidan ist für die Mehrheit der Ukrainer unumstößlich klar: Der Weg geht nach Europa. Das war vorher nicht so selbstverständlich. Die „Revolution der Würde“, wie die Maidan-Proteste auch genannt werden, hat vielen Ukrainern, auch der Kirche, neues Selbstbewusstsein gegeben. Die verschiedenen christlichen Konfessionen in der Ukraine standen zusammen. Die Menschen haben die Kirche als Anwältin des Volkes erlebt. Das bleibt – auch wenn viele Menschen mit Enttäuschung auf den Maidan zurückblicken.

Inwiefern?

Korruption und Oligarchie liegen nach wie vor wie Mehltau über dem Land. Der Krieg in der Ostukraine findet kein Ende. Die Machtbegierden Russlands sind eine ernsthafte Bedrohung. Der Eindruck vieler meiner Gesprächspartner war, dass die Regierung Poroschenko dem zu wenig entgegensetzt. Insofern liegen große Erwartungen auf den anstehenden Präsidentschaftswahlen, die für 2019 geplant sind. Sie bergen aber auch die Gefahr neuer Unruhen …

Sie haben das komplexe Verhältnis der christlichen Konfessionen angesprochen. Wie steht es um die Ökumene?

Die Lage ist für einen Westeuropäer wirklich unübersichtlich: Es existieren im Wesentlichen drei orthodoxe Kirchen in der Ukraine, und auch die katholische Kirche tritt in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen auf: In der römisch-katholischen Form, wie wir sie kennen, und in der griechisch-katholischen. Diese Kirche pflegt die ostkirchliche Liturgie und Kirchenbräuche, steht aber in voller Einheit mit dem Papst. Bedingt durch historische und politische Einflüsse ist das Verhältnis der Kirchen nach wie vor nicht spannungsfrei. Es gibt aber Signale der Annäherung. So fand zum Beispiel Anfang Juni in Kiew ein großer „Marsch für das Leben“ statt, den der römisch-katholische Bischof von Kiew organisiert hatte. Christen aller Konfessionen und auch Vertreter der Muslime gingen gegen die Gender-Ideologie, für das Recht auf Leben und den Schutz der Familie auf die Straße. Das waren rund 10 000 Menschen! Solche Signale braucht die ganze ukrainische Gesellschaft dringend.

Was meinen Sie damit?

Nicht nur Korruption und Krieg, auch Armut und Drogen drohen die Ukraine zu zerreißen. Die Kirche geht mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen an. Zwei Beispiele: In einem Kloster der Kapuziner erzählte man mir, dass für einen Neubau in der Regel enorme Bestechungsgelder fällig werden. Die Ordensmänner folgen der strikten Devise: Mit Korruption machen wir uns nicht gemein; wir zahlen nicht. Die Folge sind nicht nur Verzögerungen beim Bau, sondern auch manche Anfeindungen.

Beispiel zwei: Ich habe ein Mutter-Kind-Haus bei Charkiw besucht, das von Ordensfrauen geleitet wird. Schwangere Frauen, viele von ihnen aus schwierigen Verhältnissen und oft drogenabhängig, finden dort Unterkunft. Eine erst 18-Jährige, bereits zweifache Mutter, gestand: „Ohne die Schwestern hätte ich abgetrieben. Die Straße wäre mein Untergang gewesen.“ In der Ukraine konnte ich erfahren, was im besten Wortsinne katholische, also „allumfassende“ Hilfe bedeutet: Hilfe ohne Ansehen der Person und Religion. Das ist der große Unterschied zu den Sekten, die in der Ukraine immer mehr an Zulauf gewinnen. Der Bischof von Kiew, Witalij Krywyzkyj, sagte mir: „Die Kirche ist die einzige Institution, der die Menschen noch vertrauen.“

Das überrascht ja erst einmal, wenn man sich vor Augen führt, dass die Ukraine fast ein Dreivierteljahrhundert kommunistisch beherrscht war. Teilweise war die Kirche blutig verfolgt. Wie steht es um das kirchliche Leben heute?

Ich war beeindruckt, eine so lebendige katholische Kirche in der Ukraine zu erleben – obgleich sie eine Minderheit von etwa fünf Millionen Menschen ausmacht; die Mehrheit der Ukrainer ist russisch-orthodox. Die Gottesdienste sind gut besucht, viele junge Leute und Kinder kommen. Die neuen geistlichen Gemeinschaften spielen eine große Rolle in der Ukraine und haben regen Zulauf. Wichtig für die Glaubensverbreitung ist auch die kirchliche Medienarbeit, die „Kirche in Not“ ebenfalls unterstützt. Wenn man die Kirche in der Ukraine sieht, versteht man, was Papst Johannes Paul II. mit Neuevangelisierung gemeint hat! Es gibt auch viele Berufungen. In Lemberg (L´viv) zum Beispiel befindet sich eines der größten Priesterseminare der Welt, das zur griechisch-katholischen Erzeparchie gehört: 202 Seminaristen und 40 Kandidaten im ersten Studienjahr! Es ist eine Freude zu sehen, wie enteignete Kirchen wiederaufgebaut, geschlossene Klöster zum Leben erweckt wurden. Gleichzeitig sind die Wunden der Verfolgung noch überall sichtbar: Die Erinnerung an die Märtyrer währen der kommunistischen Herrschaft, kirchliche Häuser, die noch immer nicht zurückgegeben werden, die prekäre Situation vieler Geistlicher und der Gläubigen.

Also nach wie vor ein weites Feld für die Hilfe …

Vor 55 Jahren hat der Gründer von „Kirche in Not“, Pater Werenfried van Straaten, mit der Ukraine-Hilfe begonnen. Im Priesterseminar von Lemberg hat man ihm sogar ein Denkmal errichtet. Auch an anderen Orten, wo wir waren, sagte man uns: „Ohne die Hilfe von ,Kirche in Notʼ hätten wir nicht überleben können.“ Und das gilt nach wie vor. Die Kirche in der Ukraine ist heute zwar nicht mehr verfolgt, aber sie leidet. Das gilt im Hinblick auf die materielle wie geistliche Not der Menschen, die in einfachsten Umständen leben und von denen immer mehr keine Zukunft mehr in der Heimat sehen. Das Land droht auszubluten. Die Kirche leidet aber auch in den großen Mühen ihrer Seelsorger. Ein Pfarrer in Odessa sagte mir: „Ich spare lieber das Geld für meine Krebsbehandlung, damit ich für meine Dorfgemeinde eine Kapelle bauen kann.“ Solche zupackende Hingabe habe ich überall in der Ukraine vorgefunden. Auch darum steht die Ukraine nach wie vor an Platz vier von über 140 Ländern, in denen Kirche in Not hilft. Und die guten Früchte dieser Hilfe sind überall zu sehen.

Von Maria Lozano

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